Beitrag von: Sandro Dühnforth, Vorsitzender der Vereinigung der Herrenschneider
Der „echte“ Maßanzug steht auch heute noch in seinem ästhetischen und kulturellen Wert exemplarisch für die hochwertige Arbeit des Herrenschneiderhandwerks. Dabei garantiert ein Anzug vom Herrenschneider immer auch ein nachhaltiges und hochwertiges Produkt, das aus natürlichen Bestandteilen wie Wolle, Rosshaar und Steifleinen besteht. Zu den besonderen handwerklichen Fertigkeiten der Herrenschneider*Innen gehören – neben der Beratung – das Maßnehmen, die Erstellung eines individuellen Schnittmusters, der Zuschnitt per Hand, die Verbindung von Unterbau und Oberstoff durch Nadel, Faden und Hand, die Dressur (In-Form-Bügeln) des Stoffes, die Korrektur des Kleidungsstücks bei den Anproben und natürlich auch die sachgerechte Pflege und Reparatur der fertigen Bekleidung.


Derzeit nur noch rund 60 Herrenschneider-Betriebe in Deutschland
Die erste Blütezeit der rein handwerklichen Herrenschneiderei endete mit der Erfindung der Nähmaschine Mitte des 19. Jahrhunderts. Trotzdem blieb das Handwerk bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts flächendeckend erhalten. Während es 1949 bundesweit noch 45.506 Schneiderbetriebe gab, existieren derzeit nur noch rund 60 Maßschneider-Betriebe.
Zugleich gilt der maßgeschneiderte Anzug bis heute als hochwertigste und individuellste Variante des Kleidungsstücks. Die handwerklichen Fähigkeiten, die in eines dieser Stücke einfließen, erfordern jahrelange Übung und eine psychologische Intuition, die im Zusammenspiel gewährleisten, dass das fertige Kleidungsstück zum Körperbau und Charakter seines Trägers passt. Damit hat das Berufsbild neben der rein ökonomischen auch eine künstlerische Dimension.
Bedeutend ist die Rolle, die das Handwerk seit jeher in der Kunst und im Brauchtum spielt: Ikonen wie Fred Astaire oder Frank Sinatra und Figuren wie James Bond wären in ihrer Wirkung ohne Maßbekleidung undenkbar geblieben. Zahllose, weitere Bühnen- und Filmfiguren verdanken ihre glaubwürdige Darstellung der handwerklichen Sorgfalt, mit der ihre Kostüme maßgeschneidert worden sind. Ebenso sind regionale Trachten und Karnevalskostüme untrennbar mit dem aktiven Handwerk der Herrenschneider verbunden und somit weiterhin lebendige Alltagskultur.

Diskrete Eleganz für den neuen Kunden
Die Ansprüche der Kundschaft sind durch Individualisierungsprozesse und Modeeinflüsse gestiegen. Wer heute Maßanzüge fertigt, muss eine große Auswahl an Schnitten, Linienführungen, Mustern und Farben beherrschen. Dabei gilt es, vom eigenen Ideal abzurücken und die Stilform des Kunden mit Empathie zu erforschen. Der Anzug muss mit dem Träger eine Symbiose bilden und wird dadurch zum subtilen Kommunikationsmittel. Deutsche Herrenschneider arbeiten in dem Bewusstsein, eine besonders große Bandbreite der Anforderungen abzudecken, die ihr Beruf an sie stellt.
Trotzdem legen die meisten Schneider ihrer Arbeit ein diskretes Konzept von Eleganz zugrunde. Sie konzentrieren sich auf die möglichst perfekte Ausgestaltung vieler Details, die im Resultat kaum wahrnehmbar sind, für Kenner aber den Unterschied machen. Das perfekte Knopfloch, der tadellose Ärmelfall und das Anschmiegen der Nahtlinien an den Körper sind Grundsätze des Handwerks, die über Jahrhunderte vom Meister zum Auszubildenden weitergetragen werden.


Der Sisyphos im Herrenschneider
Die klassischen Betriebe eint in ihrer Herangehensweise auch ein ideeller Kern: Das ständige Streben nach Perfektion in dem Wissen, sie nie zu erreichen. Erstens kann die Arbeit mit der Hand nie völlig ebenmäßig sein, zweitens muss das fertige Kleidungsstück bei so vielen unterschiedlichen Tätigkeiten am Körper liegen, so dass es nicht in allen Positionen vollkommen wirkt. Trotzdem wird ein Herrenschneider bei Linienführungen, Materialien und Ausfertigung versuchen, so nah an die Grenze zu kommen wie irgend möglich. Darüber hinaus hat der Schneider immer auch modischen Entwicklungen und Bedürfnissen gerecht zu werden, deshalb muss er mit jedem Stück dazulernen. Die Motivation für all das kann nur aus der Leidenschaft entspringen, Geld allein ist nicht genug.